In einem internationalen Großunternehmen ist enormes Wissenspotenzial vorhanden. Aber wie macht man es verfügbar, wenn es darauf ankommt? Darüber haben wir mit Robert Renard, dem weltweit führenden Experten für Wissensmanagement beim Beratungsunternehmen Kearney, gesprochen.
Dipl.-Wirtsch.-Ing. Robert Renard ist Director Global Knowledge Management bei Kearney. Das von Andrew Thomas Kearney 1926 gegründete Unternehmen gehört zur weltweiten Elite der Managementberater. Seit 2006 ist Renard für Kearney tätig, davor hat er an der Technischen Universität Kaiserslautern sowie an der Wake Forest University in den USA studiert.
Herr Renard, viele Menschen fragen sich, wie Ihre zumeist sehr jungen Kollegen als externe Berater in Unternehmen, die sie kaum kennen, kluge Ratschläge geben können? Woher nehmen sie ihren Wissensvorsprung gegenüber erfahrenen internen Experten?
Ein altes Gerücht über die Unternehmensberatung. Wer Kearney kennenlernt, sieht ein Team, in dem Kolleginnen und Kollegen mit unterschiedlicher Erfahrung gemeinsam so arbeiten, wie es die Aufgabe erfordert. Zudem sind in Fragen wie Digitalisierung, neue Technologien oder Nachhaltigkeit gerade die Jungen mit ihrem Wissen oft ganz weit vorne. Mit den angesprochenen Experten unserer Kunden arbeiten wir übrigens auch gerne eng zusammen. Ihre provokante Frage ist aber für einen Wissensmanager natürlich eine Steilvorlage, denn Zugang zu unserem weltweiten Wissen ist ebenfalls ein Erfolgsfaktor: Da sind zum einen die abgelegten Vorlagen für Workshops oder Studien, die Sammlungen von Daten, Benchmarks und Best Practices oder Schulungsunterlagen für Analysemethoden. Wir haben aber auch unsere interne Experten-Datenbank – sie ermöglicht persönlichen Kontakt zu einem unserer erfahrenen Beratungsexperten irgendwo auf der Welt. Wir haben Spezialisten, die im Hintergrund Informationen aufbereiten und verfügbar machen, und falls nötig, Zugang zu vielen hunderttausend externen Experten. Es ist eine Kernaufgabe im Wissensmanagement, einen unkomplizierten Zugriff auf das gesamte Wissensportfolio und die Expertise der Firma für die spezifische Projektaufgabe bereitzustellen.
Wo genau liegen dabei Ihre größten Herausforderungen?
#Die Geschwindigkeit von Innovationen in der strategischen Unternehmensberatung ist sehr hoch. Projekte bauen oft auf der vorhandenen Expertise auf, die Ergebnisse der Projekte gehen dann aber darüber hinaus. Das Wissensmanagement läuft hier immer etwas hinterher. Dies liegt in der Natur der Sache, weil Ideen zuerst entwickelt und dann dokumentiert werden. Eine perfekt organisierte Dokumentation, die Wissen systematisch ablegt, reicht aber nicht mehr aus. Eine gute Taxonomie und gute Verschlagwortung sind immer noch wichtig, aber wir müssen weiter gehen. Wir arbeiten daher zum Beispiel daran, Technik besser einzusetzen, denken Sie an moderne Suchalgorithmen, die Visualisierung von Strukturen in unserem Wissen oder Möglichkeiten, die uns die künstliche Intelligenz bietet.
Kearney besteht seit 1926 und genauso alt ist vermutlich ihr Wissensmanagement. Wenn wir an die vergangenen zehn Jahre denken, was waren die wichtigsten Innovationen?
Wissensmanagement hatte tatsächlich immer eine Bedeutung in der Beratung, wenngleich 1926 die Anforderungen in ganz vielen Dimensionen mit den heutigen nicht zu vergleichen waren. Das hat Auswirkungen darauf, wie unser Wissensmanagementteam aufgestellt ist. Kollegen, die die einzelnen Industriebereiche und Funktionen betreuen, brauchen heute selbst eine hohe persönliche Expertise, um wirksam unterstützen zu können. Auf der technischen Seite sind sicherlich Entwicklungen aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz sehr wichtig für uns und viele neue Instrumente kommen zurzeit auf den Markt.
Berät Ihr Unternehmen auch Kunden bei der Auswahl, Konzeption und Implementierung von Wissensmanagementsystemen?
Ja, wir unterstützen, wenn Wissensmanagement aufgebaut oder verbessert werden soll. Mir fällt spontan ein Projekt ein, an dem ich beteiligt war: Ein Unternehmen hatte viele kleine, hochspezialisierte Betriebe, verteilt in wohl rund einhundert dezentralen Organisationseinheiten. Es gab dort viele Herausforderungen im Materialmanagement, von Planung und Bestellung bis zur Abrechnung. Gleichzeitig waren die Materialien und Anforderungen sehr unterschiedlich, ein Spektrum von Artikeln um nur wenige Cents bis zu komplexen Geräten mit sechsstelligen Werten, ein Teil war Monate im Voraus planbar, ein anderes das Ersatzteil für eine kritische Anlage. In dieser Situation war klar, dass wir in wenigen Wochen nicht alle gelebten Prozesse aufnehmen und dann mit klassischen Prozessoptimierungsmethoden durcharbeiten können. Also haben wir „Drehscheiben“ für einzelne Aufgaben entwickelt. Wir haben den typischen Anforderungen dort „Best Practice“-Lösungen gegenübergestellt. Diese kamen teils aus unserem Wissen, teils waren sie aber auch vor Ort beobachtet, zum Beispiel was den Einsatz der vorhandenen IT-Systeme betrifft. So konnten Mitarbeiter unseres Kunden selbstständig prüfen, wie gut die eigenen Prozesse waren, und gegebenenfalls Vorlagen aus der Drehscheibe übernehmen und die eigenen Prozesse anpassen. Bei Bedarf war es auch möglich, über die Drehscheibe gezielte Nachfragen zu stellen oder auch weitere Lösungsoptionen vorzuschlagen.
Wie gut ist Ihrer Meinung nach die Baubranche in Sachen Wissensmanagement global aufgestellt und welches Potenzial würden Sie hier sehen?
Ich kenne die Baubranche persönlich nicht tief genug, um mir ein Urteil über alle Unternehmen hinweg erlauben zu wollen. Aber ich denke, dass sie in der Art des komplexen Projektgeschäfts gewiss Ähnlichkeiten mit der Unternehmensberatung hat. Sie werden selten dasselbe Bauwerk zweimal mit demselben Team errichten, wir kein Beratungsprojekt in exakter Kopie wiederholen. Daraus folgt, dass Wissen oft sehr verteilt ist, Strukturen ständig wechseln, die Wissensträger nicht direkt zu finden sind. Wissensmanagement ist daher oft eine Brücke über diese Brüche hinweg. Im Coronajahr 2020 ist es nochmals wichtiger geworden, dabei nicht nur auf persönliche Kontakte im Büro-Flurfunk angewiesen zu sein. Ich glaube, die Chance liegt darin, eine klare Strategie zu haben: Welches Wissen muss zugreifbar sein und soll gezielt aufbereitet werden, wo kann fremde Expertise bei Bedarf die Lücken schließen und insbesondere, wie macht man es einfach und schafft Vertrauen, damit diese Ressourcen dann auch wirklich genutzt werden.
Muss die erfolgreiche Beschäftigung mit Wissensmanagement ein fixer Bestandteil unseres Arbeitsalltags werden? Wie schwierig ist es, dafür Akzeptanz zu schaffen?
Ja, gerade wenn das Wissen dezentral entsteht, wie oben beschrieben, kommt es auf die Einzelnen an, damit Wissen nutzbar wird – das heißt, sowohl Wissen zu teilen als auch auf das Wissen zuzugreifen, jederzeit und weltweit. Es geht auch um Fragen an die Unternehmenskultur. Zum Beispiel: Können wir überzeugend erklären, warum Beiträge zum gemeinsamen Wissenspool wichtig sind, sowohl für die Organisation insgesamt als auch als Chance für den Einzelnen, persönlich sichtbarer zu werden und Karrieren zu gestalten. Ein letzter Gedanke: Gibt es Rückmeldungen – wie selbstverständlich ist ein kurzes „Danke“ (oder vielleicht ein „Like“), wenn vorhandenes Wissen geholfen hat.
Wie könnte ein Prozess zur Systematisierung des Wissensmanagements aussehen und welche Hausaufgaben müssen davor gemacht werden?
Es lohnt sich, glaube ich, den Prozess damit zu beginnen, sich die Ziele des Wissensmanagements im eigenen Unternehmen klarzumachen. Technologie kann sicher inspirieren, aber die Frage nach den Anforderungen sollte wie so oft im Vordergrund stehen. Wer verfügt über Informationen und warum sollen sie geteilt werden? Unterstützt das Wissensmanagement dabei, Prozessqualität zu steuern und Verfahren zu vereinheitlichen, oder dient es eher der Effizienz, damit nicht jede Frage fortlaufend neu gestellt und beantwortet werden muss? Warum soll ein Anwender das bereitgestellte Wissen nutzen – erleichtert es die eigene Arbeit, schafft es Sicherheit im Umgang mit kritischen Fragen oder Anstöße bei der Entwicklung neuer Lösungen? Kann das vorhandene Wissen die eigene Work-Life-Balance verbessern, weil redundante Tätigkeiten entfallen, oder hilft es, neue Fähigkeiten zu erwerben? Mal wird ein einfaches Portal oder eine strukturierte Datenbank die richtige Lösung sein, die wenige Wissenskuratoren betreiben können, in anderen Fällen eine „Corporate Social Media“-Plattform oder ein Wiki. Es gibt aber sicher auch Aufgaben, die eine komplexe Software-Lösung erfordern und oft auch Änderungen an den gelebten Prozessen des Unternehmens.
Abschließend eine persönliche Frage. Ihrem CV entnehme ich, dass Sie Chemieingenieurwesen studiert und unmittelbar danach bei Kearney angedockt haben. Dort entwickelten Sie sich zum Experten für Managementstrategie und -prozesse vorwiegend in der Chemieindustrie. Kürzlich haben Sie Ihren Fokus auf Knowledge Management verschoben. Was hat Sie zu diesem Schritt motiviert?
Als Berater hatte ich schon Kontakte zum Wissensmanagement und habe eine Zeit lang nebenbei Wissensthemen in unserer globalen Chemie-Practice koordiniert. Als mir meine heutige Rolle angeboten wurde, war ich neugierig genug, mich der Herausforderung zu stellen. Auch im Wissensmanagement sind wir ein Team; in spezifischen Fragen unterstützen mich die Kolleginnen und Kollegen mit ihrer langjährigen Erfahrung – ich kann dafür Aspekte aus der Beratungspraxis einbringen. Wie oben schon angesprochen, soll Wissensmanagement keinen Elfenbeinturm aus PowerPoint-Präsentationen schaffen, sondern unsere Beraterinnen und Berater ganz praktisch unterstützen. Und da Sie gezielt nach der Chemie fragten: Sie hat mir jedenfalls die Scheu genommen, Prozesse verbessern zu wollen, auch wenn sie zunächst komplex aussehen.