Brücken sind nicht nur beeindruckende Beweise höchster Ingenieurs- und Baukunst, sondern auch Wirklichkeit gewordene Metaphern der Verbindung: von Ufer zu Ufer, manchmal auch von der Vergangenheit in die Zukunft. Diese Transformation spielt sich derzeit hundert Meter über der Drau im Kärntner Jauntal ab.
Weit zurückliegende Erinnerungen sind oft schwarzweiß, wie die meisten Fotos aus jener Zeit: 1959 senkten mutige Männer eine Betonglocke, Fachleute nennen sie Caisson, auf den Grund der Drau, bliesen mit Luft das Wasser aus und begannen, in den engen Hohlräumen die Fundamente für zwei verwegene, mitten im Fluss stehende und vom Wasser gesehen geradezu den Himmel stürmende Pfeiler zu graben. Auf diese und zwei weitere, hangseitig errichtete Stützen legten sie ein 1850 Tonnen schweres Stahltragwerk und ein Gleis. 1964 fuhr darauf der erste Zug von St. Paul im Lavanttal über den 426 Meter breiten Flusseinschnitt nach Bleiburg. Für die Region brach ein neues Zeitalter an.
Zeitmaschine
Heute, fast sechzig Jahre später, ist das monumentale Bauwerk wieder Bestandteil einer Zeitenwende: Die Koralmbahn mit ihrem Herzstück, dem fast 33 Kilometer langen Koralmtunnel, wird mit ihrer Fertigstellung 2026 die Fahrzeit zwischen den beiden Landeshauptstädten Graz und Klagenfurt von derzeit knapp drei Stunden (mit der Bahn über Bruck an der Mur) oder zwei Stunden (mit dem Intercitybus) auf 45 Minuten verkürzen und soll langfristig sogar einen neuen „Wirtschaftsraum Südösterreich“ schaffen. Für die mutige Konstruktion aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts bedeutet das allerdings eine bautechnische Runderneuerung an Haupt und Gliedern.
Verschubarbeiten
An dieser Stelle tritt Michael Schuster ins Bild. Der sympathische Grazer ist Projektleiter der 43 Millionen Euro teuren „Brückensanierung“, die in weiten Teilen eher einem Neubau gleichkommt. Das Prinzip klingt bestechend einfach: Auf einem nördlich neben dem Bestandsgleis gelegenen, 10 000 Quadratmeter großen Montageplatz wird in drei Teilen aus Stahlelementen eine neue Brücke vorbereitet. Stück für Stück wird dann die alte Brücke unter Einfügung der neuen Brückensegmente ersetzt, also nach Süden „ausgeschoben“, wo die alten Brückenteile zerlegt und abtransportiert werden. Zwei Gleise und die Stromleitungen montieren, den zentralen Geh- und Radweg komplettieren: Jauntalbrücke 2.0 fertig.
Angewandte Physik
Was auf dem Niveau von Lego ganz einfach geht, ist in der Wirklichkeit eine enorme Herausforderung für Mensch und Technik. Die neue Stahlkonstruktion wird mit 3300 Tonnen fast doppelt so schwer wie die alte, was eine umfangreiche Ertüchtigung der bestehenden, für ein einzelnes Gleis, für leichtere Züge und geringere Geschwindigkeiten konstruierten Brücke notwendig macht. Immerhin sollen Züge mit 250 Stundenkilometern über den Talübergang zischen, der auch bei einer Notbremsung den entstehenden Querbeschleunigungen 96 Meter über der Wasseroberfläche standhalten muss.
Kompetente Improvisation
Dazu werden die Fundamente der zwei Hangstützen mit betonierten Seitenteilen verstärkt, jene der zwei im Wasser stehenden Pfeiler mit Zementinjektionen im Untergrund des Flussbetts stabilisiert. An den unteren und oberen Pfeilerenden bohren Schusters Fachleute an genau vorgegebenen Stellen präzise Löcher in den alten Beton und bauen bis zu acht Meter lange Stabspannglieder ein, damit die Pfeiler und Widerlager den Beanspruchungen der neuen Koralmbahn für die nächsten hundert Jahre verlässlich standhalten. Für viele dieser Arbeiten in schwindelerregender Höhe gibt es auch kein „Schema F“, sondern es müssen angepasste Lösungen vor Ort entwickelt und umgesetzt werden. So zum Beispiel die Arbeitsgerüste, die sich um die Pfeilerköpfe schmiegen und viele Tätigkeiten knapp unterhalb des Stahltragwerks an den Brückenlagern erst möglich machen. Sie wurden am Boden teilweise vormontiert, mit einem ebenfalls selbst gebauten Ponton über den Fluss und zum Einsatzort transportiert, fast hundert Meter die Betonpfeiler hinauf - gezogen und dort sicher verankert. „Das geht nur mit einem tollen Team, das auch an Spaß an der Aufgabe hat. Mit business as usual bist du bei einem solchen Projekt verloren“, meint Schuster.
Men of Steel
Das Projekt Jauntalbrücke begann für ihn im Dezember 2021. Die erste Herausforderung: Die asbest- und bleihaltige Beschichtung im Inneren des Bestandstragwerkes aus den späten Fünfzigerjahren mittels Sandstrahler und im Ganzkörperschutzanzug mit Luftversorgung zu entfernen. Seit Mitte Juli ist die Brücke für den Zugverkehr gesperrt, am ersten von drei Teilen des neuen Brückentragwerks sprühen die Funken der Schweißgeräte. Die Konstruktion stammt vom deutschen Spezialisten Donges Steeltec. Aus dem Werk in Darmstadt bringen die bis zu sechzig Tonnen schweren Spezialtransporte vorgefertigte Bauteile über eine eigens verstärkte Brücke ans Nordufer der Drau. „Das Glück war, dass wir den Auftrag im November 2021 erhalten haben und ARGE-Partner Donges das Material beschaffen konnte, bevor die Stahlknappheit am Markt eingetroffen ist“, sagt Schuster. Ein zweiter wichtiger Partner mit Regionalbezug ist das Lavanttaler Bauunternehmen Kostmann.
Verbindendes Element
Sobald der erste Brückenabschnitt fertig ist und die Widerlager auf den Brückenpfeilern durch Montagehilfstürme ersetzt worden sind, wird der bestehende Gleiskörper am Nordufer entfernt, der erste neue Brückenteil (mit etwa 1200 Tonnen) ausgerichtet, mit dem Bestand verbunden und mithilfe entsprechend dimensionierter Hydraulikzylinder nach Süden eingeschoben. Ist die neue Brücke komplett, bringen Schuster und seine Leute eine Betonplatte auf, auf der die Gleisanlagen montiert werden, und stellen die Zufahrten wieder her. Im Dezember 2023, wenn das erste Gleis der Koralmbahn auf Kärntner Seite in Betrieb geht (das zweite folgt im April 2024), wird die Jauntalbrücke ihren nächsten, viele Jahrzehnte dauernden Lebensabschnitt beginnen, im ewigen Auftrag der Verbindung von Ufern, Menschen, vielleicht sogar Völkern und Zeiten.
Jauntalbrücke
- Auftraggeber: ÖBB
- Länge: 426 Meter
- Höhe: 96 Meter über Wasseroberfläche
- Gewicht des Tragwerks: 3300 Tonnen
- Beton: 7000 Kubikmeter
- Bewehrung: 1200 Tonnen
- Lärmschutz: 2900 Quadratmeter
- Korrosionsschutz: 14 000 Quadratmeter
- Baubeginn: Dezember 2021
- Fertigstellung: Juni 2024
- Kosten: 43 Millionen Euro
Koralmbahn
Mit einer Länge von 130 Kilometern, davon 47 in Tunneln, mehr als ein - hundert Brücken sowie zwölf neuen Bahnhöfen ist die Koralmbahn seit Baubeginn 1999 eines der bedeutendsten Infrastrukturprojekte Europas. Sie verkürzt die Bahnfahrzeit zwischen den beiden südlichen Landeshauptstädten Graz und Klagenfurt von drei Stunden auf 45 Minuten. Ab 2030 brauchen Businesskunden oder Erholungsuchende von Wien an den Wörthersee zwei Stunden vierzig Minuten. Die Bundesländer Steiermark und Kärnten sprechen bereits von einem neuen „Wirtschaftsraum Süd“, der durch das verkehrstechnische Zusammenrücken der Zentralräume entstehen soll.